12. 
          Geschichte
          Das Quartals-Syndrom
          
         
Nachdem 
          sie sich ein frohes neues Jahr gewünscht und mit dem Wirt das obligate 
          von ihm spendierte Glas Sekt getrunken hatten, sagte Kuddel unvermittelt: 
          Utverschaamt! Ik mutt dörtig Euro mehr an miene Krankenkasse 
          betahlen un wenn ik to`n Dokter gah, will he ook noch teihn Euro Praxisgebühr 
          in`t Viddeljohr vun mi hebben! Dat nennt se nu Gesundheitsreform. Ik 
          bün stinksuur!
          Laß 
          das Stöhnen! erwiderte Ralf. Denke an den Brief vom 
          Bundesgesundheitsministerium. Ich habe ihn für Walter mitgebracht, 
          weil er zu den bemitleidenswerten Rentnern gehört, die mit der 
          gesetzlichen Rente auskommen müssen.
          Wat 
          för een Schrieben? war Kuddel erstaunt. Ik heff nix 
          kregen!
          Dann 
          haben sie dich vergessen. Hört mal beide zu. Ralf holte einen 
          Briefumschlag aus seiner Tasche, und meinte, indem er das Schreiben 
          herausnahm: Das ist wirklich ein verspäteter Silvesterscherz!
        Sehr 
          geehrte/r Rentner/in
        zunächst 
          möchten wir Ihnen ein frohes und gesundes neues Jahr wünschen, 
          wobei wir auf das Wort gesund noch zurückkommen werden, 
          da Sie Ihre Gesundheit selbst steuern können! 
          Sie gehören zu der sich glücklich schätzenden Gruppe, 
          die eine Betriebsrente erhält. Im Rahmen der Gesundheitsreform 
          müssen Sie dafür ab Januar den vollen Krankenkassenbeitrag 
          abführen. Verschiedene Medien versuchen Sie jetzt gezielt aufzuhetzen 
          und stellen das als ungerecht dar. Das ist es überhaupt nicht! 
          Im Gegenteil: Ungerecht ist, dass sechzig Prozent der Rentner dieses 
          Privileg nicht haben und gerne diesen Beitrag zur Sanierung der Kassen 
          leisten würden, wenn sie denn eine Betriebsrente bekämen!
          Auch über die Praxisgebühr sollten Sie nicht verärgert 
          sein, sondern überlegen, ob Sie wirklich in diesem Quartal zum 
          Arzt müssen oder den Besuch bis zum nächsten Quartal aufschieben 
          können. Teure Zuzahlungen auf Medikamente können Sie dann 
          einsparen.
          Langzeitstudien 
          mit Placebos haben ergeben, dass die in vielen Fällen den gleichen 
          Erfolg bringen. Achten Sie nur darauf, dass sie Ihren bisherigen Medikamenten 
          in Aussehen und Geschmack gleichen. Wir denken hier an Pfefferminzdragees 
          oder wegen ihrer Buntheit auch an Smarties.
          Ihren 
          Blutdruck und Cholesterinspiegel können Sie senken, indem Sie statt 
          Energie zu verschwenden, welche verbrauchen! Gehen Sie nachmittags spazieren 
          anstatt zwei Stunden vor dem Fernseher zu verbringen und sich mit Kuchen 
          voll zu stopfen! Wenn 
          Sie das beherzigen, wird 2004 für Sie nicht nur ein gesundes, sondern 
          auch ein billigeres Jahr werden als 2003!
        Mit 
          freundlichen Grüßen Ihr Gesundheitsministerium
         
        Walter 
          lachte herzhaft. Das ist geschickt gemacht! So kann man Murks 
          auch verkaufen!
          Geschickt? 
          fragte Kuddel mit einem gefährlichen Unterton. Dat is driest!
          Dat 
          is Volksverdummung! De köönt froh sien, dat se mi nich anschreven 
          hebbt! Mi kümmt glieks de Galle hoch!
          Die 
          Mitarbeiter der Commerzbank können den Krankenkassenbeitrag ja 
          bald sparen! bemerkte Walter sarkastisch. Wo die Bank jetzt 
          die Firmenrente gekündigt hat. Nur der Vorstand ist ausgenommen. 
          Die Spitzenmanager haben bereits im Januar 2003 ihre eigenen Pensionen 
          gegen eine eventuelle Insolvenz des Unternehmens abgesichert.  
          Dass die sich nicht schämen!
          Jo, 
          in Grund un Boden! schimpfte Kuddel. De Lüüd schüllt 
          ut Protest ehr Konten bi de Commerzbank kündigen!
          Nein! 
          widersprach Walter. Das wäre keine Lösung, dann würden 
          die Mitarbeiter auch noch arbeitslos werden!
          Ralf 
          nickte zustimmend und sagte nachdenklich: Ich war Anfang Januar 
          mit meinem Hund beim Tierarzt. Harras schlug nicht mehr an, zuckte bei 
          jedem Geräusch zusammen und sprang in die Höhe. Ihr glaubt 
          gar nicht, wie voll die Praxis war.
          Mein 
          Nachbar war auch mit seiner Katze da, entgegnete Walter.
          Die miaute auf einmal nicht mehr, sondern gab Geräusche von 
          sich wie ein Luftheuler. Das sei das Silvester-Syndrom, 
          hat der Arzt gesagt. Die Tiere seien durch die Böller und Raketen 
          verschreckt.
          Seltsamerweise 
          waren aber auch Leute ohne Tiere da und ließen sich selbst behandeln, 
          fuhr Ralf lachend fort. Denn das haben sie in dem Schreiben nicht 
          erwähnt: Die Tiermediziner sind die einzigen Ärzte, die keine 
          vierteljährliche Praxisgebühr kassieren!
          Walter 
          lächelte und schüttelte den Kopf. Kuddel blieb ganz ernst 
          und sagte:Goot, 
          dat du dat vertellst, dann will ik ook de teihn Euro sporen. Ik nehm 
          mi dat Quartals-Syndrom un fang bi'n Veehdokter an to bellen!