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       Die Maus 
        mit den  
        rosafarbenen Ohren 
          
      Märchen 
        von Gertrud Pforr 
       Unterhalb 
        eines wunderschönen Rosengartens, nahe bei der Uferböschung 
        eines Flusses, lebte die Maus Friederike. 
        Ein großes Geißblatt verdeckte den Eingang zu ihrer Wohnung 
        und schützte gleichzeitig vor Sonne, Regen und den Greifvögeln, 
        vor denen sie sich in Acht nehmen mußte.  
      Es war 
        nicht ihr Haus, und eigentlich befand sie sich nur auf der Durchreise, 
        aber weil die Räume unbewohnt waren und ihre Füße so weh 
        taten, zog sie ein. Friederike stellte ihre schwere Reisetasche auf den 
        Boden, nahm das Kapotthütchen ab und zog die neuen Schuhe aus. Dann 
        schloß sie die Tür, legte sich aufs Sofa und war im Nu eingeschlafen, 
        so erschöpft war sie, die arme Friederike! Sie war eine Feldmaus, 
        und hatte ihre Vettern und Basen in der Stadt besucht. 
        Nach tränenreichem Abschied von den Kirchenmäusen, setzte sie 
        ihr Kapotthütchen auf, nahm ihre schwere Reisetasche und machte sich 
        auf den Heimweg. Leider wurde ihre Reise durch den einsetzenden Regen 
        erschwert.  
        Sie huschte von Blatt zu Blatt, um unter ihnen Schutz vor Nässe zu 
        suchen.  
        Dann fand sie das leere Haus unter dem großen Geißblatt! Welch 
        eine Freude!  
        Sie hatte einen Ort, wo sie erst einmal bleiben konnte, um sich auszuruhen. 
         
        Der quittegelbe Kanarienvogel Rudi, der mit seiner dicken schwarzen Tasche 
        die Post verteilte, bemerkte, daß in dem Haus, unter dem Geißblatt 
        wieder jemand wohnte; und es interessierte ihn auch - wer!   
        Ein Briefträger muß alles wissen und so öffnete er leise 
        die Tür, und fragte rollend: "Ist jemand hierrrr - rrr?" 
        Dann sah er die schlafende Friederike auf dem Sofa liegen und - staunte! 
         
        Er staunte nicht über die fremde Dame, - nein - er staunte, weil 
        diese Maus rosafarbene Ohren hatte. Sie mußte etwas ganz besonderes 
        sein, - denn - und er kam auf seinen Flügen weit herum, noch nie 
        hatte er so etwas gesehen! Aufgeregt verließ er das Haus und flog 
        davon, um allen von der wunderbaren Neuigkeit zu berichten.  
        "Rrrrr - Rrrruhe," schallte es nun von Büschen und Zweigen, 
        "Im Haus am Bach wohnt eine ganz besondere Maus, - eine wunderschöne, 
        mit rosafarbenen Ohren!" Zuerst staunten alle Tiere, die  
        von dieser  
        außerordentlichen 
        Erscheinung hörten, um dann schnell die ungeheuer aufregende Nachricht 
        weiter zu verbreiten. 
        Es stimmte! Kurz bevor Friederike das leerstehende Häuschen fand, 
        stehen blieb und sich vorsichtig umsah, wehte der milde Nachtwind Blütenblätter 
        aus dem Garten zu ihr herunter, in jedes Ohr eines! Die feuchte Luft und 
        die feinen Härchen in der Muschel bewirkten, daß die Rosenblätter 
        so fest saßen, als wären sie ein Teil von ihr. - Und die Maus 
        hatte keine Ahnung davon!  
      Noch schlief 
        Friederike, denn von Rudi hatte sie nichts bemerkt, - aber die Tiere hielten 
        es vor Neugierde nicht mehr aus. Die Bewohner der Umgebung mußten 
        sich selbst überzeugen, daß die Maus unter dem Geißblatt 
        wirklich rosafarbene Ohren hatte.  
        Jeder war neugierig, wollte es aber nicht zeigen, - aber man wußte 
        sich zu helfen, man schickte die Kinder vor. Friederike hörte Klopfen 
        an der Tür und auf ihr "Herein" schauten sie zwei schwarze 
        Augen aus schmalem Gesicht an, darüber zwei spitze Ohren, und außerdem 
        hatte es krumme Beine und ein winziges wuscheliges Schwänzchen. Ein 
        Hasenjunge! 
        Georg, 
        der frechste und mutigste der Hasenfamilie, trat ein.   
        "Guten Morgen", 
        rief er höflich ins Zimmer! Wenn es stimmte, und die Maus hatte wirklich 
        rosafarbene Ohren, war sie vieleicht eine Zauberin, und man mußte 
        sich gut mit ihr stellen. "Guten Morgen", klang es freundlich 
        aus der Sofaecke des dämmerigen Raumes. 
        "Was gibt es denn, - wer bist du?" 
        "Ach nichts, - ich wollte nur mal sehen.. . ." Er verstummte 
        und trat näher an die Stimme heran. 
        Jetzt sah er es deutlich, die Maus hatte rosafarbene Ohren! Mit offenem 
        Mund sah er sie an, ging rückwärts zur Tür, rief noch:"Mein 
        Name ist Georg!" und verschwand, die Tür hinter sich weit offen 
        lassend.Auf 
        diesen Moment hatten alle Neugierigen gewartet! Kohlmeise und Rotkehlchen 
        spazierten in die Stube und staunten.  
      Das 
        Eichhörnchen schaute zur Tür herein, um dem Jüngsten das 
        Wunder zu zeigen, und auch Igel und Marder kamen, um sich zu merken, welche 
        Maus sie lieber nicht fressen sollten. Friederike, die sich nicht erklären 
        konnte, weshalb ihr soviel Aufmerksamkeit zuteil wurde, war zuerst sehr 
        verlegen. Doch dann, mit der Zeit, fühlte sie sich geschmeichelt; 
        vor allem weil man ihre Ohren bewunderte. Sie wußte, daß diese 
        schön waren, und wer wäre nicht eitel, aber sie verstand nicht, 
        weshalb sie rosa sein sollten. So etwas war in ihrer Familie nicht üblich!Einen 
        Spiegel besaß sie nicht, und so beschloß sie, später 
        ihr Spiegelbild im Wasser des Baches zu betrachten. 
        Erst einmal trat sie vors Haus und wurde sofort umringt und bewundert. 
        Sie genoß den Ruhm und die Verehrung, die ihr unerklärlicherweise 
        zuteil wurde und sie dankte für die Leckerbissen, Äpfel, Samen 
        und alle anderen Dinge. Ja, niemand der sie aufsuchte, kam ohne eine Gabe. 
        Man brachte ihr die Kinder, die sie ausgiebig bewunderte, und alle Mäuse 
        aus der Umgebung waren stolz, daß sie eine von ihnen war. Natürlich 
        blieb der Trubel nicht unbemerkt und als die dicke fette Katze sah, wer 
        so hofiert wurde, verhielt sie sich ganz still, denn je mehr Leckerbissen 
        die Maus verspeiste, desto besser würde sie ihr nachher schmecken. 
         
       Auch 
        der Kauz, welcher auf einem Baum, auf der gegenüberliegenden Seite 
        des Baches saß, beobachtete die Scene wachsam. Er war müde, 
        weil er des Nachts auf Futtersuche ging, und jetzt war heller Tag, aber 
        ein Auge behielt er offen, - vorsichtshalber! Nun geschah es aber, daß 
        der sonst so ruhig dahinplätschernde Fluss plötzlich lauter 
        wurde. Der Regen hatte ihn aufgestaut und er polterte nun mit großer 
        Geschwindigkeit ins Tal hinab. Aus den kleinen hüpfenden Wellen, 
        welche sonst über Kieselsteine sprangen, war nun ein reißender 
        Strom geworden, der alles mit sich riß! Das hohe Schilf, die starren 
        Binsen und die blauen und gelben Wasserlilien bogen sich plötzlich 
        im aufkommenden Sturm. 
        Gras, abgerissene 
        Zweige und Seerosen schwammen auf dem Wasser vorbei.  
        Ein Haubentaucherpaar, welches auf einer schwimmenden Insel saß, 
        überlegte, ob es mit seinen Kleinen auf dem Rücken weiterziehen 
        sollte und auch der Biber hatte alle Hände voll zu tun, um seinen 
        zerstörten Damm wieder in Ordnung zu bringen.  
         
        Alles 
        wäre nicht so schlimm gewesen, wenn das Wasser nicht so schnell gestiegen 
        wäre. Es brach ein Chaos aus. Alle Tiere, die unmittelbar am Wasser 
        lebten, versuchten sich in Sicherheit zu bringen.Die Schnecke zog sich 
        in ihr Haus zurück und ließ sich treiben, die Vögel flogen 
        schnell davon und die Vierbeiner liefen die Böschung hinauf. 
        Friederike sah erschreckt in die Runde. Niemand von ihren Bewunderern 
        ging. Keiner brachte sich in Sicherheit, der Ring um sie wurde enger und 
        enger und die Augen forderten : "Tu etwas, du kannst es! Wir haben 
        dir schöne Dinge gegeben, jetzt hilf uns!"  
        Ihr erschien es so, als ob alle von ihr ein Wunder erwarteten. Sie konnte 
        keine Zaubereien vollbringen, aber helfen wollte sie gern! 
        Noch immer hatte sie nicht bemerkt, daß sie rosafarbene Ohren hatte 
        und deshalb für etwas besonderes galt. Was wollten diese Tiere von 
        ihr, die Hasen, Mäuse und alle anderen Besucher? Am Anfang glaubte 
        sie, man begrüße Fremde hier besonders freundlich, aber nun? 
        Sie half so gut sie konnte, trug vorsichtig die Eier der Rohrammer ins 
        höher gelegende Schilf, nahm Mutter Hase den Jüngsten aus der 
        Familie ab und gab ihn an Vater Lampe weiter. Als das Wasser immer höher 
        stieg, bat sie sogar die Fische um Hilfe. Alle Tiere folgten ihrer Bitte 
        und Herr Rotauge und Fräulein Forelle fragten Baumeister Biber, ob 
        alle gefährdeten Tiere sich über seinen Damm in Sicherheit bringen 
        dürften. Er willigte ein, und so schnell sie konnten, liefen die 
        Tiere auf die andere Seite.  
        Einer half dem andern, weil die Maus mit den rosafarbenen Ohren den Anfang 
        gemacht hatte.  
      Und Friederike? 
        Es kam so, wie es kommen mußte.  
        Die Rosenblätter waren verdorrt, rollten sich auf und fielen ab. 
        Niemand erkannte in ihr mehr die Maus mit den rosafarbenen Ohren. Sie 
        war auf einmal nur eine graue Maus, eine von vielen, auf dem Weg nach 
        Hause.  
        Irgend jemand rief nach ihr, nach Friederike, aber als sie sich meldete, 
        erkannte man sie nicht mehr. Ja, sie bekam sogar Ärger, weil man 
        ihr nachsagte, sie wolle sich für die Wundermaus ausgeben, und das 
        sei böse und hinterhältig.  
        Warum war sie auf einmal weniger wert, als vor der Wassersnot? Hatte sie 
        nicht so gut geholfen, wie es ihr möglich war? Traurig setzte Friederike 
        ihr Kapotthütchen auf, zog ihre Schuhe an, nahm die schwere Reisetasche 
        und machte sich kopfschüttelnd auf den Heimweg. 
      Federzeichnung 
        Mäuse: Elfi Bock/ Literadies 
      Rosen: 
        Gertrud Everding/Literadies 
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