Übersicht
Autoren
Jahreszeit
Texte
Wir über uns
Gästebuch
Startseite



Damals . . .

Die Äpfel unserer Kinderjahre . . .


Silberhochzeit, am 17.August 1942

von Meta Techam

"Heute halten wir mindestens eine Stunde Mittagspause", sagt Vater und lächelt. "Aus gegebenem Anlass", fügt er hinzu.
"Du denkst daran?" Mutter ist freudig überrascht.
"Ja", sagt Vater "vor fünfundzwanzig Jahren war genau so ein heißer Sommertag wie heute, und wir beide haben geheiratet."
Wir sitzen am Feldrand, ein Holunderbusch gibt uns Schatten. Mutter packt die Butterbrote aus den Rhabarberblättern, und ich schäle die Gurken. Der Gerstenkaffee in der großen Kanne ist kühl, er hat die ganze Zeit im Wasser des Grabens gelagert.
Die Luft flimmert vor Hitze. Die Bienen summen in den Kleeblüten am Grabenrand, sonst ist Stille.
Der kräftige Geruch der reifen Getreidehalme zieht durch die Luft, gemischt mit dem schwachen Duft der welkenden Mohnblüten. Wir sind bei der Ernte. Vater mäht den Weizen, Mutter und ich binden die Garben und stellen die Hocken auf. Wir haben sehr früh am Morgen angefangen, das halbe Feld ist schon abgemäht.

Ich möchte gerne die Geschichte vom Hochzeitstag meiner Eltern noch einmal hören. Sie interessiert mich sehr. Ich bin neunzehn Jahre alt.
"Ihr mußtet damals zu Fuß zur Kirche gehen, obwohl der Weg doch so weit war?" frage ich.
"Ja", sagt Mutter, "der Gutsbesitzer Gutzeit gab uns keinen Wagen, weil alle Pferde zur Ernte gebraucht wurden. Es war doch Krieg und die besten Pferde hatte das Militär geholt."
"Und fast hätte es mit meinem Fronturlaub nicht geklappt", erzählt Vater. Er ist heute, an diesem besonderen Tag, viel redefreudiger als sonst.
"Du hattest große Mühe, um ein Paar Schuhe zur Hochzeit zu bekommen", sagt er zu Mutter und legt seine harte Arbeitshand zart auf Mutters nackte, staubige Füße.
"Aber dann waren es nachher auch ganz feine Knopfstiefelchen, und du hattest deine Soldatenuniform zur Hochzeit an und kamst aus Russland." Mutter verstummt plötzlich.

"Wo unser Junge wohl ist? Ob er noch am Leben ist?" sagt sie nach einer Weile. Ihre Stimme hat jetzt einen anderen Klang.
"Immer wieder Krieg. Jetzt ist unser Sohn in Russland, wie du vor fünfundzwanzig Jahren."
Vater streicht ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Das Haar ist silbern.
Das Land meiner Kindheit liegt nicht irgendwo, es liegt in mir. Niemand hat es mir genommen, nur der Weg dahin ist weit.


Hinter diesem Fenster von Meta Techam

Ich stehe im Schnee vor dem Fenster eines niedrigen Hauses. Das Strohdach reicht schützend weit über das kleine Fenster hinaus. Die einfachen Läden aus schlichtem Fichtenholz sind geschlossen. Das alles sehe ich nur in Gedanken. Tief in mir höre ich die Stimme meiner Mutter, die mir vor mehr als einem halben Jahrhundert erzählt hat, was in der Stube hinter diesem Fenster geschehen ist.
Es ist eine kalte Winternacht im Jahre 1922. In der Dunkelheit des kleinen Zimmers atmen fünf Menschen. Noch nicht einmal das Mondlicht schimmert durch die geschlossenen Fensterläden. Anna, die junge Frau, ist wach, neben ihr schläft Rudolf, ihr Mann. Das vierjährige Töchterchen Charlotte liegt zusammen mit der Großmutter in einem Bett an der gegenüber liegenden Wand, in der Wiege daneben schläft das zweijährige Fritzchen.
In dieser Stube wird gewohnt, gekocht und geschlafen.

Anna hat Schmerzen. Vor kurzem hat sie ihr drittes Kind, ein Mädchen, geboren. Es ist nach wenigen Tagen gestorben. Anna kann sich nicht wieder erholen.
Sie schafft es nicht, ihre beiden Kinder zu versorgen. Auch kann sie nicht die Arbeitstage beim Bauern ableisten, zu denen die Familie verpflichtet ist, weil sie die Stube im Insthaus des Bauern bewohnen dürfen. Anna muß viele Tage im Monat zur Arbeit gehen, denn der Arbeitstag einer Frau zählt nur halb so viel, wie der des Mannes.
Alles muß jetzt die Großmutter, Annas Mutter, bewältigen. Sie macht die Arbeit beim Bauern und versorgt die Kinder. Oft fragt die Oma, was sie Rudolf in den Rucksack tun soll, wenn er in der Dunkelheit des Wintermorgens zur Waldarbeit geht. Als Holzfäller verdient er nur wenig und alles ist so teuer geworden.
Wie oft besteht das Essen für die ganze Familie nur aus zwei Salzheringen, Pellkartoffeln und einer mit Heringslake verbesserten Mehlsoße. Da Anna derzeit nicht beim Melken sein kann, fehlt es sogar an der Milch für die Kinder.

Anna merkt, daß auch Rudolf nicht schläft. Er dreht sich behutsam zu ihr um. Warmherzig blickt sie in seine strahlend blauen Augen und streichelt seine schwarzen Locken. Er hat zu ihr gehalten und sie gegen den Willen der Eltern geheiratet, als sie ein Kind trug vor fünf Jahren.
Nun leben sie immer noch zusammen mit der Großmutter in dieser engen Stube. Rudolf verläßt ganz leise das Bett.
Das vertraute Knarren der Dielenbretter zeigt ihr, daß er auf den Stuhl zugeht, auf dem seine Kleider liegen. Sie kann hören, daß er sich anzieht. Anna erschrickt! Was hat er vor? Es ist doch mitten in der Nacht. Er geht wortlos hinaus und macht leise die Tür hinter sich zu. Beunruhigt starrt Anna in die Dunkelheit und wartet. Da, Rudolf kommt zurück! Sie will gerade aufatmen, als sie merkt, daß er zu ihrer Mutter geht und leise auf sie einredet. Auch die Oma steht auf und zieht sich an. Beide gehen, weiterhin wortlos, hinaus in die Winternacht. Es dauert lange bis sie wiederkommen. Sie schleppen etwas Großes, Schweres in die Stube.

Jetzt endlich zündet Rudolf einen Kerzenstummel an und in dem schwachen Licht erkennt Anna, daß vor ihrem Bett ein toter Hirsch auf dem Boden liegt.
Die Mutter macht den Kellerdeckel auf und da hinein zerrt Rudolf das Tier.
Dann schließt er die Luke wieder, zieht den schäbigen Flickenteppich sorgfältig darüber und löscht das Licht. Jetzt erzählt er leise, daß er am Vortage bei der Waldarbeit einen vom Revierförster angeschossenen Hirsch habe im Dickicht verenden sehen.
Nun hatte er mit Mutters Hilfe das gute Wildbret für seine Familie geholt, da er es alleine nicht hätte schaffen können.
"Du bekommst jetzt Fleisch und eine kräftige Brühe, Anna", sagte er zu seiner Frau, "und wirst wieder gesund!"
Für Rudolf ist es schon wieder Zeit zur Arbeit zu gehen. "Schlaf noch ein wenig, Anna", meint er beruhigend und geht hinaus.
Die Fensterläden sind noch geschlossen und in der Dunkelheit kommen die Albträume:
Wenn es Tag ist, wird der Förster kommen. Mit dem Forstgehilfen und seinem Hund wird er die Fährte des waidwunden Tieres aufnehmen und verfolgen. Der frisch gefallene Schnee hat es nicht geschafft, die Schleifspur vom Jagen 33 zu unserer Behausung zu verdecken. In seinem Zorn und mit der Macht des erbarmungslosen Vorgesetzten wird er deinen Mann sofort fristlos entlassen. Der Knecht wird den Hirsch abholen und es wird eine Zeit der Not, Verzweiflung und Scham folgen. Du wirst dich aus dem Krankenlager quälen müssen und dich die zwei Kilometer zum Forsthaus schleppen. Du wirst dein Haupt neigen als ein tief ergebener Bittsteller, um die Wiedereinstellung deines Mannes zu erflehen. Es wird lange dauern, bis du dich im Dorf wieder wirst blicken lassen können".

Ein Jahr später, 1923, werde ich in dieser Stube an deiner Brust liegen, Anna, meine geliebte Mutter.

 

Bald sind sie flügge!
Literadies
ein Apfel aus Nachbars Garten . . .


Kindheit in Hamburg
von Charlotte Brozzo

Damals, vor fast 70 Jahren gab es nur in wenigen Wohnungen Radiogeräte und wenn, waren es solche mit Kopfhörern. Von Fernsehgeräten wusste keiner etwas, außer vielleicht ein paar Technikern. Jedoch, womit füllten die Menschen ihre geringe Freizeit?
Langweilten sie sich? Oh nein! Wenn für die Frauen keine Strümpfe mehr zu stopfen und auch sonst keine Flickerei anstand, die Männer genug Feuerholz gehackt und die vielen Kleinigkeiten in Haus und Hof erledigt hatten, wurde oft gelesen (Leihbüchereien gab es in jeder Straße).
Es wurde auch gespielt: ´Mensch ärgere Dich nicht´, ´Mühle´, ´Dame´, ´Halma´ oder Karten, wie ´66´ oder ´Buben anlegen´, eine Art ´Rommé´. Unter Schulkindern auch 'Schiffe versenken' oder 'Stadt Land, Fluss'. Das aber hauptsächlich in der dunklen Jahreszeit.
Im Sommer spielten wir Kinder so lange wie möglich draußen auf dem Hof oder auf der Straße: Kriegen, ´Dritten Abschlag,´ Abo Bibo´, ´Messersteck´, ´Probe´, ´Eierlegen´(Ballspiel) usw. usw.
Aber es gab auch noch andere Unterhaltungen und von einer schreibe ich hier: Die fünf Häuser auf unserem Hof standen wie moderne Reihenhäuser nebeneinander, mit dem Unterschied, dass jedes Haus je eine Wohnung im Parterre und eine im ersten Stock hatte.
Die Parterrebewohner konnten aus ihrer Küchentür in einen kleinen Garten gehen, wirklich sehr klein. Darin befand sich auch noch ein Schuppen, auch 'Schauer' genannt für Kohlen, Holz und einige Gartengeräte.
Einige Bewohner besaßen dort zeitweise Kaninchen.
Opa und Oma Wenck, die unter uns in Haus Nr. 5 wohnten, hatten sich einen Hühnerstall für 4 oder 5 Hühner gebaut, dazu gab es einen Schauer für Feuerung und Kisten als Schlafstätten und gelegentlich als Wochenbett für die beiden Katzen. Nebenan noch eine Art Remise, wo der Blockwagen stand.

Im Haus Nr.1, Parterre, wohnte Jan! Er hatte einen unaussprechlichen polnischen oder russischen Nachnamen. Ständig trug er einen dunklen Anzug und einen großen schwarzen Schlapphut. Sein Gesicht, soweit man etwas davon sah, war hager, faltig mit einem traurig herabhängenden Schnauzbart. Er lebte von der Wohlfahrt, heute Sozialamt.
Er wohnte zusammen mit Frau Clausen. Ob ihm oder ihr die Wohnung gehörte, keiner wusste es. Frau Clausen sah man sommers und winters in einem dunkelgrauen fußlangen Rock und einer grau und blau gestreiften Bluse. Im Winter hüllte sie sich in ein großes schwarzes Umschlagtuch.
Einen Henkelkorb trug sie immer bei sich, aber ob und was jemals darin war - auch das wusste keiner. Ihr Haar war grau wie der Rock und zu einem dürftigen Knoten aufgesteckt.
Beider Alter war unbestimmt. Heute schätze ich es mal auf etwa 50 Jahre. Unterwäsche trug sie wahrscheinlich nicht, denn ab und zu war eine Rocknaht aufgeplatzt und dann sah man nackte Haut.
Jan konnte sich immer dienstags sein Geld holen. Dann kam er oft erst gegen Abend und meist angetrunken nach Hause Auf seinem Weg vom Torweg zum Haus sang er schon in einer fremden Sprache. - Polnisch? Russisch? - und in seinem Gärtchen sang er weiter. Manchmal tanzte er auch, Krakowiak oder Mazurka. Woher wir das wussten? Wenn die Nachbarn ihn singend kommen hörten, öffneten sie ihre Fenster, denn nun begann die Vorstellung:
Nachdem er eine Zeitlang gesungen und getanzt hatte, kam Frau Clausen aus der Küchentür. Wahrscheinlich bat sie ihn, aufzuhören und ruhig hereinzukommen. Aber das bekam ihr schlecht, denn nun gab's Ohrfeigen und Prügel. Polizei holen? Keiner hatte Telefon im Haus und bis jemand zur Wache gelaufen und einen Sipo mitgebracht hatte, war alles vorbei! Nachdem Frau Clausen sich schimpfend und schreiend in die Küche geflüchtet hatte, tat Jan der Ausbruch leid und er begann zu schluchzen und zu weinen.
Dann sang er noch das eine oder andere traurige Lied, bat lauthals in hartem Deutsch um Verzeihung und verschwand ebenfalls im Haus.
Dieses Spektakel fand nicht allwöchentlich statt und erregte auch längst nicht immer die große Aufmerksamkeit, hat sich mir jedoch fest eingegraben.
Von meiner Mutter wurde ich ermahnt, mich nicht an Streichen gegen diese armen Menschen zu beteiligen, aber ich gehörte auch zu der Kinderhorde, war also dabei, wenn auch manches Mal mit einem schlechten Gewissen.

Heute gibt es diese Häuser nicht mehr. Der Bombenkrieg hat alles ausgelöscht. Stattdessen ist die Straße eine vierspurige `Auto-Rennbahn´. Wo blieben die Kinder? - - - Ja, Kinder sieht man dort nicht mehr.

 

Pfingstausflug von Christa Renken

Das Pfingstfest wurde in der Generation meiner Eltern immer besonders festlich begangen. Meine Mutter erzählte mir oft, wie sich die Familie, Verwandte und Freunde bereits in früher Morgenstunde zum gemeinsamen Pfingstausflug trafen. Die Häuser in der Stadt und auf dem Lande waren mit zartgrünen Birkenzweigen geschmückt. Das steigerte die Festtagsfreude. Die Jungen empfanden es als besonderes Vergnügen, mit ihren Schmetterlingsnetzen und Botanisiertrommeln den Schmetterlingen und Käfern nachzujagen. Einer der Höhepunkte war das gemeinsame Picknick.
Mit der Klampfe, der Ziehharmonika und der Mundharmonika wurde musiziert und dazu fröhlich gesungen. Nachmittags kehrte man in eine Landgaststätte oder Waldschänke ein. Nach dem Motto "Hier können Familien Kaffee kochen" wurden der "gute" oder Mischkaffee aufgebrüht und Berge von Kuchen verzehrt. Abends kehrte man müde, aber in dem Bewußtsein heim, daß es ein wunderschöner Tag gewesen war.
An ähnliche fröhliche Pfingsttage meiner Jugend erinnere auch ich mich. Das begann bereits mit der Vorfreude, wenn meine Mutter die Festtagskleidung schneiderte. Mein Bruder bekam einen dunkelblauen oder weißen Matrosenanzug. Für mich nähte meine Mutter duftige Voilè- bzw. Organdy-Kleider.
Das ungewöhnlich frühe Aufstehen am 1. Pfingsttag störte uns nicht, weil wir in Erwartung des großen Ereignisses ohnehin sehr zeitig aufwachten.
Unser Ziel war eine Landgaststätte außerhalb der Stadt, die wir mit der Bahn oder einem festlich geschmückten Lkw erreichten. Für uns alle war es ein frohes Wiedersehen mit den Freunden meiner Eltern und ihren Kindern. Unsere Ausgelassenheit war grenzenlos, wenn wir auf den Spielgeräten im Garten herumturnen durften.
Jedoch das Pfingstkonzert war der Höhepunkt des Tages. Mein Vater dirigierte die Blaskapelle, während mein Bruder ihn manchmal nachzuahmen versuchte. Wir alle waren eine fröhliche Gesellschaft. Wenn ich zurückblicke, freue ich mich heute noch über die unbeschwerten Pfingsttage in meiner Kinder- und Jugendzeit.

Der 2. Weltkrieg hatte von uns allen viele Opfer verlangt. Pfingstkonzerte fanden nicht mehr statt. Nach dem Krieg wurde unsere Heimatstadt Magdeburg von Russen besetzt.
Mein Vater wurde aus seiner Position entlassen und machte das Musizieren zu seinem Hauptberuf. Er gründete eine Kapelle, die zu allen möglichen Gelegenheiten spielte und dadurch die Menschen wieder etwas froher stimmte.
1947 ließ mein Vater die alte Tradition wieder aufleben und gab außerhalb der Stadt das erste Pfingstkonzert. Unsere Kleidung war zwar nicht so aufwendig wie früher, aber wir konnten mit viel Phantasie improvisieren. Die Hauptsache jedoch war das Konzert, zu dem viele Menschen gekommen waren. Es gab manch rührendes Wiedersehen.
Ein russischer Offizier, dem mein Vater Geigenunterricht erteilte, hatte von dieser Veranstaltung erfahren. Zu unserer großen Überraschung erschien er in Begleitung einiger Kameraden.

Teils aus Neugierde, teils aus Angst verstummten die Gäste.
Erst als die Offiziere alle möglichen Lebensmittel aus ihrem Wagen holten, um den Menschen mit der reichlichen Verpflegung eine Freude zu bereiten, löste sich die Spannung.
Der ungewohnte Überfluß an Nahrungsmitteln und auch Getränken brachte die Stimmung auf den Höhepunkt. Niemand dachte wohl daran, daß wir einmal Feinde gewesen waren. Die Musik hatte uns miteinander verbunden, und wir konnten für einen Tag unseren Existenzkampf und unsere Sorgen vergessen.
Natürlich hatten die Russen auch ihre Wünsche. Immer wieder wollten sie "Auf der grünen Wiese", "Rosamunde" und vor allem "Alte Kameraden" hören.
Dieser Marsch durfte eigentlich nicht mehr gespielt werden. Erst als die russischen Offiziere die Verantwortung dafür übernahmen, spielte die Kapelle mit viel Schwung unter dem Beifall des Publikums und der freundlichen Soldaten den Marsch.

Leider war diese fröhliche Veranstaltung nach dem Krieg das erste und letzte Pfingstkonzert unter der Leitung meines Vaters. Bereits 1948, ein Jahr später, mußten wir in den Westen flüchten. Unauslöschlich aber sind die Erinnerungen.


Bilder: Literadies



Thüringer Wald - Fotograf:©Thomas R/Pixelio

Heimkehr von Brunhild Kollars


Mit müdem Schritt tritt ein Mann in abgerissener Kleidung aus dem Hainichwald. Sein Gang schleppend,erschwert durch die klaffenden Sohlen der Stiefel, der linke Arm in einer schmutzigen Binde, in der rechten Hand einen Stecken zum Stützen. Der rötliche ungepflegte Bart im ausgezehrten Gesicht läßt ihn älter erscheinen, als er ist.
Vor ihm liegt das Heimattal. Er bleibt stehen, schaut auf die drei im Frühdunst liegenden Dörfer. Die sich wie Drillinge gleichenden Kirchtürme werden von der kühlen Vorfrühlingssonne beschienen. Kein erhabenes Gefühl steigt auf beim Anblick der nun fast erreichten Heimat. Zuviel Entbehrungen liegen hinter ihm, zu groß der Hunger, um erhabene Gefühle zu spüren. Der Kanten Brot von einer gutmütigen Bäuerin ist längst verdaut, bohrender Schmerz in seinen Gedärmen ein ständiger Begleiter. In einer Senke nicht weit vom Wege hört er das Plätschern der Ouelle, des Lehde - Brunnen. Mühsam kniet er nieder, trinkt das klare Wasser.
Etwas erfrischt geht er weiter, riecht die Erdschollen der frischgepflügten Felder, hellgrüne Wintersaat, jubelnde Lerchen steigen in die Luft, fast will sich etwas Freude auf das Wiedersehen einstellen.

Wie würden ihn Eltern und Brüder empfangen? Seit er vor einigen Jahren mit einundzwanzig als Jüngster der drei Brüder unter Napoleon nach Rußland ziehen mußte, war jegliche Verbindung mit dem "Zu Hause" unmöglich geworden. Keine Nachricht konnte ihn oder die Familie erreichen. Nie würde er die Strapazen und Qualen des furchtbaren Rückzuges im eisigen russischen Winter vergessen.
Den Anschluss an die Kameraden durch seine Verwundung verloren, war er gezwungen, sich noch ein ganzes Jahr durch das Land zu schlagen.
Manchmal wurde er von barmherzigen Russen aufgenommen und versorgt.
Kurz vor der preußischen Grenze wohnte er bis zu seiner Genesung bei einer mütterlichen Frau, deren Sohn in dem Gemetzel des Krieges umgekommen war. Sie wollte ihn bei sich behalten, ihn aber zog es mit Macht nach Hause. Er schreckt aus seinen Gedanken auf.
Bello springt ihm entgegen, kann sich nicht lassen vor Freude.
Er steht im Hof des Elternhauses! Aus der Haustür kommt ihm eine ihm unbekannte Frau entgegen, fragt barsch, mit unfreundlichem Blick, wer er sei.
Mit eiligem Schritt tritt die Mutter hinzu:"Du lebst!", sehr bewegt, mit schwankender Stimme, "ich habe es immer gewußt!" Sie reicht ihm die Hand, bittet die Schwiegertochter, etwas zu essen aufzutragen.
" Wo ist der Vater?" fragt Konrad bang, nichts Gutes ahnend.
"Vor einem Jahr gestorben", die knappe Antwort der Schwägerin Anna.
Inzwischen war Zacharias, der älteste Bruder vom Felde nach Hause gekommen, schirrte die Pferde aus. Nun begrüßt er Konrad kurz und unbewegt.
"Wir haben nicht mehr mit deiner Heimkehr gerechnet, die anderen Soldaten sind schon lange zu Hause, wenn sie nicht gestorben sind. Der Hof gehört mir, das Land ist mit Johann geteilt, das ist beschlossen und eingetragen, nichts mehr zu ändern."
Konrad spürt, wie etwas in ihm zerbricht, was nie wieder heilen wird, sehr weh tut. Er bringt kein Wort heraus, Nebel verdunkelt seine Augen, eine noch nie erlebte Starre bemächtigte
sich seiner. In seiner Familie wurde von jeher nur das Nötigste geredet, Gefühle nie gezeigt. Verschlossenheit und Sprödigkeit ist ihm bekannt. Doch so einen Empfang hat er nicht erwartet.

Die Mutter sieht ihn traurig an, sagt nichts, darf wohl nichts sagen. Das harte, arbeitsreiche Leben hat ihre Kräfte aufgezehrt. Sie ist vielleicht nur noch geduldet. Abends kommt der mittlere Bruder Johann. Auch er zeigt keine Freude über das Wiedersehen.
Nach einer heftigen Auseinandersetzung mit den Brüdern wird Konrad schmerzlich bewußt, daß er bettelarm ist, nur noch seine Arbeitskraft besitzt.Nach einigen Tagen geht er ins Nachbardorf Niederdorla, der Gutsherr sucht einen Knecht. Konrad verdingt sich. Schon nach einem Jahr wird er Verwalter. Ungeheurer Fleiß, Umsicht und Tüchtigkeit zeichnen ihn aus. Er gönnt sich keine Ruhe, kein Vergnügen. Sein Blick sei finster, zum Fürchten, sagen die Leute. Seine Seele ist gestorben.
Nach 10 Jahren harter Arbeit kann er in der Nähe des Gutes ein Haus erwerben, die junge blonde Susanna heimführen, die einige Morgen Land als Mitgift bekommt. Sie ist ruhig, arbeitsam, verträglich, schafft es sogar manchmal, seine Düsternis weichen zu lassen.
Sein Elternhaus in Langula betritt er nie wieder. Sogar der Beerdigung der Mutter bleibt er fern. Seine beiden Söhne, Jakob und Andreas, haben viel von der Schwermut des Vaters geerbt.
Er ist in hohem Alter, als der Tod ihn abruft.

Eine "Photographie"
aus dem Jahre 1866 in Merseburg

Andreas Heß, der Sohn von Konrad
mit Dorothea Heß, seiner Frau.
Das Kind ist Amalie Kohlhaus, geb. Heß,
meine Großmutter (ca.1 Jahr alt).




Nach der Beerdigung, die Söhne waren verheiratet, kamen wegen der Erbschaft Feindseligkeiten zwischen den Brüdern auf. Amalie und Adolf, die Kinder von Andreas und der liebevollen Dorothea wuchsen jedoch fröhlich heran. Als sie selbst Familien gründeten, die ausgesprochen freundlich und verträglich waren, und als sie ihre Kinder streng, aber voller Liebe groß zogen, wich der böse Schatten, die Düsternis des Großvaters von der Familie.


Nationalpark Hainich - Fotograf: ©Jürgen Weingarten/Pixelio


E
rgänzung zum besseren Verständnis der Familiengeschichte:
Amalie Heß, meine Großmutter, Enkelin von Konrad Heß, heiratete Wilhelm Kohlhaus und führte mit ihm eine glückliche Ehe. 1902 verkauften sie das Haus des Großvaters Konrad und zogen in ein größeres mit Hof und schönem Garten.
Im gleichen Jahr wurde Artur, mein Vater, als sechstes von acht Kindern geboren.

Damals 2
nach oben
 
Übersicht
Autoren
Jahreszeit
Texte
Wir über uns
Gästebuch
Startseite